Dutzende Menschen spazieren an diesem Abend die Avenida Embaixador Abelardo Bueno entlang. Die meisten tragen gelbe T-Shirts mit der Aufschrift „Rio 2016“. Das Helferheer des Organisationskomitees hat seine Tagesschicht im Olympiapark beendet, dem Herzstück der Spiele in Barra da Tijuca. Es ist 20 Uhr, die Sonne ist vor zweieinhalb Stunden untergegangen.

Im Dunkeln ist Rio ziemlich unheimlich. Vor allem da, wo wenige Menschen in den Straßen unterwegs sind. So wie normalerweise in Barra, der amerikanisch anmutenden Vorstadt Rio de Janeiros mit ihren mehrspurigen Straßen, ihren unzähligen Shopping-Centern und abgeschlossenen Wohnparks.

Die Mittelschicht ist mit dem Auto unterwegs, Arme gibt es kaum – seit den Umsiedlungen zahlreicher Favelas für die Panamerikanischen Spiele, die Weltmeisterschaft und Olympia sind es noch weniger geworden.

Doch in den nächsten Wochen ist hier alles anders. Rund um die Wettkampfstätten wirkt Rio wie ein Kriegsschauplatz. Am Rande des Olympiaparks stehen alle paar Meter Armeefahrzeuge und Soldaten. Polizisten der „Força Nacional“ aus allen Bundesstaaten Brasiliens patrouillieren in der ganzen Stadt.

So befremdlich die Präsenz schwer bewaffneter Beamter anmutet – sie sorgt auch für ein in Rio nie dagewesenes Gefühl der Sicherheit. Zumindest vorübergehend.

Carlos Guilherme Suarez Farina Teles da Silva lässt sich davon nicht beeindrucken. „Was die Schießereien in den Favelas angeht, werden sie sicher einen Deal mit den Drogenbanden machen“, glaubt der 35-Jährige, „aber die Überfälle lassen sich nicht kontrollieren.“ Deren Zahl nimmt in Rio de Janeiro stetig zu, seit die Wirtschaftskrise den gleichnamigen Bundesstaat getroffen hat und Polizisten nur noch unregelmäßig oder gar nicht bezahlt wurden.

Auch internationale Medien und Sportler haben damit schon ihre Erfahrungen gemacht. Vor wenigen Wochen wurde die Ausrüstung von ARD und ZDF gestohlen. Die australische Rollstuhl-Basketballerin Liesl Tesch verlor ihr Fahrrad in einem Raubüberfall. Auf besonders perfide Weise hat es jetzt auch den neuseeländischen Jiu-Jitsu-Kämpfer Jason Lee getroffen. Er wurde jüngst Opfer einer Entführung – durch zwei Beamte der Militärpolizei.

Carlos Guilherme fragt sich, wie das erst während der Spiele werden soll, wenn die Stadt voller Touristen ist. Seine Frau Yulia Timofeeva macht sich mehr Sorgen um Terroranschläge. „Dafür sind die brasilianischen Sicherheitsleute nicht gerüstet“, glaubt die 32-Jährige.

Paulo Storani, ehemaliger Kapitän der Spezialeinheit der brasilianischen Militärpolizei Bope, sagte der Zeitung „Brasil de Fato“, die Força Nacional sei weder für Großevents noch für Terroranschläge trainiert worden. Die Armee schon, doch sie darf nicht in, sondern nur rund um die Wettkampfstätten agieren.

„Rio de Janeiro hat einfach nicht die Voraussetzungen dafür, ein solches Megaevent auszurichten“, sagt Carlos Guilherme. Lauter Sonderregelungen seien notwendig, um die Probleme der Stadt während der Spiele in Schach zu halten.

In den öffentlichen Krankenhäusern fehlt es seit Monaten an Ausrüstung. Wie brasilianische Medien enthüllten, wurden diese zum Teil für Olympia zurückgehalten. Genauso wie ein ganzer Flügel im städtischen Spital Miguel Couto in Leblon, zwischen Ipanema und Barra da Tijuca. Der neue Sektor mit Luxusausstattung – Klimaanlagen, Granitboden, Fernseher und Internetzugang – ist seit Mai fertig, wurde aber nicht für die Bevölkerung geöffnet. Andere Kliniken cancelten kurzfristig OP-Termine im August und September, um während der Spiele (be)handlungsfähig zu bleiben.

Immerhin ein Problem hat sich quasi von selber gelöst: der Zika-Virus. Seit April nimmt die Zahl der Infektionen zusammen mit der Zahl der Tigermücken jahreszeitbedingt ab. Die WHO hat ihre Reisewarnung nur für Schwangere aufrechterhalten. Wer trotz aller Unwahrscheinlichkeit gestochen wird, riskiert, dass sein Ungeborenes mit Mikrozephalie auf die Welt kommt.

Die meisten Brasilianer nehmen die Gefahr durch die Stechmücken nicht so ernst wie die internationale Gemeinschaft. Sie sind seit vielen Jahren an Dengue gewöhnt, einen Virus, der bei mehrfacher Infektion sogar zum Tod führen kann. Er wird durch die gleiche Mücke übertragen wie Zika.

Inzwischen ist ein dritter Virus hinzugekommen: Chikungunya. Er kann für monate- bis jahrelang anhaltende Schmerzen in den Gelenken sorgen – und er breitet sich ebenso schnell im Land aus wie Zika. Ein Glück für die Olympia-Gastgeber, dass die Spiele auf den brasilianischen Winter fallen. Aktiv unter Kontrolle bekommen haben sie die Krankheiten nämlich nicht.

Die Verkehrssituation versucht die Stadt mit Sonderbedingungen zu kontrollieren: Schulferien und einige Feiertage sollen dafür sorgen, dass möglichst viele Einwohner die Stadt verlassen – beziehungsweise die heillos überlasteten Straßen Rios.

Die 30-Kilometer-Fahrt zwischen dem Olympiapark Barra und dem zweitgrößten Sportkomplex der Spiele in Deodoro dauerte bislang gut zweieinhalb Stunden. Der neue Schnellbus „Transolímpico“ umfährt seit wenigen Tagen auf einer Express-Spur die Dauerstaus in 20 Minuten.

Gerade rechtzeitig fertig geworden ist auch die neue Metrolinie zwischen Barra und Ipanema. In Folge der Pleite des Bundesstaats hätte es beinahe nicht bis zu den Spielen geklappt. Ein Verkehrschaos wäre zu erwarten gewesen: Wer mit dem Auto oder Bus in der Rush Hour von Barra nach Ipanema fährt, kann schon mal bis zu drei Stunden einplanen. Die Metro braucht für die Strecke knapp 15 Minuten.

Ob nicht dennoch ein Verkehrschaos droht, ist noch ungewiss: Die Metro-Mitarbeiter haben Streiks angekündigt. Sie warten seit Anfang Mai auf eine Lohnangleichung, außerdem fürchten sie Überstunden im Zusammenhang mit der Eröffnung der neuen Metrolinie – und Entlassungen nach den Spielen.

Da die letzte Station erst am 25. Juli fertig geworden ist, konnte die Strecke nie in voller Länge getestet werden. „Ich werde die Linie erstmal nicht nutzen“, sagt Yulia. Die Russin lebt seit vier Jahren in Rio. Sie vertraut brasilianischen Bauwerken nicht. Wegen Korruption, fehlender Expertise oder eben nicht ausreichender Tests sind Mängel keine Seltenheit, wie der Einsturz eines für Olympia errichteten Radwegs im April zeigte.

Wenn die Metro ihrem Test im laufenden Olympia-Betrieb standhält, hat die Stadt Rio tatsächlich ein gutes und seit Jahren überfälliges Transportnetz geschaffen. Stadt- und Schnellbusse, Züge, Metro und die neue Straßenbahn im Zentrum greifen dann nahtlos ineinander und verbinden, hoffentlich langfristig, die weit verstreuten Stadtteile der Megacity Rio de Janeiro.

Nichtsdestotrotz: Einer aktuellen Umfrage des Forschungsinstituts Datafolha zufolge glauben 63 Prozent der Brasilianer, dass ihnen Olympia mehr schaden als nutzen wird.

Alan de Lima kann das nicht mehr hören. „Die Leute schieben die Schuld für alles, was schiefläuft, auf die Olympischen Spiele“, sagt der 35-Jährige. Schuld seien aber die Politiker, die das Land auf allen Ebenen schlecht verwalteten – und das Volk selber, das ebendiese Politiker wähle und sich darüber hinaus nicht beteilige.

Alan findet es fantastisch, dass die Spiele zum ersten Mal in Südamerika stattfinden. Mit dem Olympiapark habe Rio endlich eine Infrastruktur für diverse Sportarten geschaffen, betont der Personal Trainer. Bleibt nur zu hoffen, dass sie nach den Spielen erhalten wird.

„Jetzt, wo die Spiele sowieso kommen, sollten wir sie feiern“, findet Alan. „Das ist etwas, das wir Brasilianer gut können.“

Erschienen am 3. August 2016 im Südkurier – Themen des Tages sowie, in verkürzter Form, in der Olympiabeilage der RNZ